Wortschöpfungen in der Zeitenwende
„Wir erweitern unseren Wortschatz ständig“, konstatierte ein Deutschlandfunk-Moderator kürzlich mit Blick auf die Formulierungen, die Bundeskanzler Olaf Scholz, Vizekanzler Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner auf ihrer Pressekonferenz am 29. September 2022 zur Vorstellung des 200 Milliarden-Euro-„Abwehrschirms“ gebrauchten. Tatsächlich stellen wir fest, dass in Zeiten des Krieges die Politik zu immer neuen Begriffen greift, um den Bürgerinnen und Bürgern das Geschehen möglichst anschaulich zu vermitteln. Die Begriffe dienen wahlweise zur schlichten Erläuterung, zur geschickten Vermarktung des eigenen Handelns – oder auch zur Ummantelung unbequemer Wahrheiten. Eine Auswahl:

 Dr. Hans Bellstedt  - Inhaber und Geschäftsführer - hbpa - The Future of Public Affairs

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Macht der Sprache – Sprache der Macht

Abwehrschirm: Mit dem am 29. September 2022 präsentierten „Abwehrschirm“ kündigte die Bundesregierung an, dass sie Mittel aus dem (zu Corona-Zeiten aufgelegten) Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) in einer Höhe von bis zu 200 Milliarden Euro aufwenden wolle, um Verbraucherinnen und Verbraucher vor den extrem hohen Gaspreisen zu schützen. Details zur Realisierung des Schirms wurden am 10. Oktober von der sog. Gaspreiskommission vorgestellt – einem Expertengremium, welches die Bundesregierung zu diesem Zweck einberufen hatte. Die Vorschläge der Kommission (Einmalzahlung im Dezember 2022, Preisdeckel ab März 2023) müssen das Gesetzgebungsverfahren durchlaufen, eine Verabschiedung wird zeitnah angestrebt. Auf der EU-Ebene hat das Vorpreschen der Ampel erhebliche Kritik ausgelöst, weil dadurch die Verhältnisse im Binnenmarkt verzerrt würden („mangelnde Solidarität“).

Bürgergeld: So wie einst aus Raider „Twixx“ wurde, so wird aus „Hartz IV“ zum 1.1.2023 das Bürgergeld. Der Begriff stammt ursprünglich von der FDP, die bereits seit 1994 in ihren Programmen ein „liberales Bürgergeld“ forderte. Das Konzept geht auf den Chicagoer Ökonomen Milton Friedman zurück und sieht eine Zusammenlegung versch. sozialer Transferleistungen zu einer „negativen Einkommensteuer“ vor. Bürokratie soll abgebaut, Hinzuverdienstmöglichkeiten sollen verbessert werden. In den Ampel-Koalitionsverhandlungen kam die SPD bei ihrem Ziel, Hartz IV abzuschaffen, auf die Idee, für das neue Konstrukt den Begriff „Bürgergeld“ zu verwenden. Die FDP stimmte dem zu, obwohl klar war, dass die SPD unter diesem Rubrum primär eine Anhebung der Regelsätze sowie einen Abbau von Sanktionen („kein Generalverdacht“) anstrebte. Derweil kritisiert die Union, dass mit dem Bürgergeld zusätzliche Anreize für den dauerhaften Bezug von Transferleistungen geschaffen würden. Dies sei „respektlos“ gegenüber denen, die regulär arbeiten und entsprechend Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen.

Doppel-Wumms: Mit diesem Ausdruck belegte Kanzler Olaf Scholz den o.g. Abwehrschirm. Er nahm damit Bezug auf das von ihm als damaligem Finanzminister verantwortete Corona-Hilfspaket, welches er als „Wumms“ bezeichnet hatte. Der Doppel-Wumms soll zum einen die Verbraucherinnen und Verbraucher vor den hohen Gaspreisen schützen. Zum anderen soll Putin signalisiert werden, dass Deutschland keinerlei Mitteleinsatz scheut, um dem Aggressor in Moskau die Stirn zu bieten.

Energiekrieg: Laut Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) befindet sich Deutschland in einem „Energiekrieg um Wohlstand und Freiheit“. Die im Zuge der Präsentation des Abwehrschirms gebrauchte Formulierung stellt klar, dass Deutschland – selbst wenn es auf dem Schlachtfeld, wie alle NATO-Staaten, nicht präsent ist – im erweiterten Sinne am Ukraine-Krieg partizipiert. Zu den Mitteln, die zur Verteidigung der Freiheit zum Einsatz kommen, zählen Waffenlieferungen und Sanktionen. Das wichtigste Mittel an der heimischen Front sind Hilfsprogramme für Bürger und Unternehmen mit dem Ziel, Wohlstand zu sichern und die gesellschaftliche Stabilität aufrecht zu erhalten.

Kernhaushalt: Mit dem Begriff „Kernhaushalt“ ist neuerdings der vom Parlament zu beschließende Bundeshaushalt gemeint. Dieser wird im Haushaltsjahr 2023 rund 450 Milliarden Euro umfassen. Bundesfinanzminister Lindner hält an seinem Ziel fest, innerhalb dieses Kernhaushalts die Regeln der Schuldenbremse einzuhalten. Dies kann aber nur gelingen, weil erhebliche Schuldentatbestände über Vehikel verbucht werden, die außerhalb des regulären Haushalts angesiedelt sind. Dazu zählen das Sondervermögen Bundeswehr (100 Mrd. Euro), der Klima- und Transformationsfonds (170 Mrd. Euro) sowie der Abwehrschirm zur Finanzierung der Gaspreisbremse (200 Mrd. Euro). Unabhängig von der Bezeichnung sind alle diese Sondertöpfe kreditfinanziert.

Sondervermögen: Das Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro wurde von Bundeskanzler Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede vom 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag angekündigt. Ziel ist eine anforderungsgerechte Ausstattung der Bundeswehr. Dafür sollen in den kommenden fünf Jahren, ergänzend zum regulären Verteidigungshaushalt, Investitionen von jährlich 20 Milliarden Euro getätigt werden. Anfang Juni 2022 änderte der Deutsche Bundestag dafür das Grundgesetz (Art. 87a).

Streckbetrieb: Kernkraftwerke, die über das geplante Datum ihrer Abschaltung befristet weiterlaufen sollen, gehen in den Streckbetrieb. Gemeint ist damit, dass es sich lediglich um eine befristete Streckung der Laufzeit unter Verwendung vorhandener Brennstäbe handelt. Vizekanzler Robert Habeck, der am 27. September 2022 den Weiterbetrieb der Meiler Isar 2 und Neckarwestheim 2 ankündigte, betonte dabei, dass dies keineswegs eine Rücknahme des Atomausstiegs bedeute. Derweil fordert nicht nur die oppositionelle Union, sondern auch der Ampel-Koalitionspartner FDP zur Erhöhung der Strommenge eine Verlängerung der Laufzeiten der noch funktionstüchtigen Meiler für mehrere Jahre. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) entschied am 17. Oktober 2022, dass Isar 2, Neckarwestheim 2 sowie das AKW Emsland „bis spätestens zum 15.4.20223“ weiterlaufen sollen.

Zeitenwende - das Wort des Jahres, geprägt von Kanzler Olaf Scholz in seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Februar 2022. Der Begriff drückt aus, dass seit Russlands Einmarsch in die Ukraine nichts mehr so sein wird, wie es vorher war. Der Begriff wirkt politisch neu, kam aber zuvor in der Literatur schon vielfach zur Anwendung. Erwähnt seien das Sachbuch „Zeitenwende 1979 – Als die Welt von heute begann“ (Frank Bösch) oder Carmen Korns in Hamburg spielender Roman „Zeitenwende“ aus der sog. „Jahrhundert-Trilogie“. Unionschef Friedrich Merz merkte auf einem Podium in Berlin unlängst an, was wir erlebten, sei keine Zeitenwende, sondern ein „Zeitenbruch“.

Politische Kommunikation dient dem Ziel, Bürgerinnen und Bürger „mitzunehmen“. In Zeiten des Krieges ist es wichtiger denn je, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern. Die Mittel der Sprache spielen in diesem Kontext eine zentrale Rolle. Die Ampel-Koalition nutzt dabei geschickt Begriffe, die das eigene Handeln zielgruppengerecht «framen» – so gelingt es Olaf Scholz, die Lieferung von Waffen an eine Kriegspartei zu rechtfertigen, Robert Habeck, das Narrativ vom Atom-Ausstieg aufrechtzuerhalten und Christian Lindner, die Schuldenbremse einzuhalten. Ein zu häufiger Gebrauch von Euphemismen („Sondervermögen“) kann dabei jedoch zu Glaubwürdigkeitsverlusten führen. Auch sollte die Wirkung einer extremen Simplifizierung oder gar Militarisierung der Sprache („Doppel-Wumms“) sorgsam bedacht werden.