Autor/-in:


Johannes Näumann

Kompetenzpartner hbpa

    Die Energie von morgen, Folge 5: Ist die Energiewende in Gefahr?

    Die Energiewende führt zu einem drastischen Anstieg des Strombedarfs bei gleichzeitig schwankender Erzeugung durch Erneuerbare. Wie können wir die Grundlast und die Netzstabilität sichern auf dem Weg zur Klimaneutralität? Im Koalitionsvertrag der Ampel fiel dem Erdgas noch eine Schlüsselrolle als Brückentechnologie für den Erfolg der Energiewende zu - seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem anschließenden Zusammenbruch des Gasmarktes in Deutschland sind diese Pläne obsolet.

    Am 17.10.2022 machte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch und schickte die drei noch verbliebenen Deutschen Atomkraftwerke bis April 2023 in den "Streckbetrieb". Eigentlich hätten sie am 31.12.2022 vom Netz gehen müssen. Vorausgegangen war ein erbitterter Streit insbesondere zwischen den Koalitionspartnern FDP und Grünen um die Rolle der Kernenergie zur Sicherung des Strombedarfs in Deutschland. Zuvor war bereits mit RWE eine Einigung ausgehandelt worden, die einen längeren Betrieb zweier rheinischer Kohlekraftwerke vorsieht. Im Gegenzug verspricht RWE, den Ausstieg aus der Kohleverstromung von 2038 auf 2030 vorzuziehen. Auch hier wurde unter den Koalitionspartnern heftig gerungen.

    Grundsätzliches Dilemma
    Der Streit beschreibt ein grundsätzliches Dilemma, das mit der umfassenden Dekarbonisierung unserer Industriegesellschaft einhergeht und sich durch den Krieg in der Ukraine massiv verstärkt hat. Der Ausstieg aus fossilen Energieträgern führt nicht zu weniger Verbrauch, er treibt den Strombedarf sogar massiv in die Höhe, insbesondere durch die Elektrifizierung des Wärmemarktes, die E-Mobilität und durch den steigenden Bedarf an Elektrolysekapazitäten zur Herstellung von grünem Wasserstoff.

    Im Jahr 2030 sollen in Deutschland 65 Prozent des Bruttostromverbrauchs aus erneuerbaren Quellen stammen. Das sieht das 2021 novellierte Klimaschutzgesetz vor. Doch wie hoch der tatsächliche Verbrauch im Jahr 2030 sein wird, darüber sind sich die Prognosen nicht einig. Manches hängt davon ab, wie die zu erwartende Elektrifizierung und der Ausbau der Sektorenkopplung (die gemeinsame Vernetzung von Strom, Wärme und Verkehr) gewichtet werden. Am höchsten liegt hier die Schätzung der Deutschen Energieagentur (dena) mit bis zu 886 Terawattstunden (TWh). Der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) sieht den Verbrauch bei 740 TWh, Agora Energiewende bei 650 TWh. Auf diesen Wert hat auch die Bundesregierung ihre Prognose nach oben korrigiert, nachdem sie bis vor kurzem noch von maximal 582 TWh ausgegangen war. Zum Vergleich: 2019 – vor der Corona-Pandemie – lag der Stromverbrauch in Deutschland bei 575 TWh.

    Massiver EE-Zubau erforderlich
    Um den Mehrbedarf, der demnach bis 2030 zwischen 80 und 300 TWh liegt, zu zwei Dritteln aus Erneuerbaren zu decken, ist ein massiver Zubau an Photovoltaik-, Biomasse- und Windenergieanlagen notwendig. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) schätzt, dass dies „für 2030 etwa 100 Gigawatt (GW) für Windenergieanlagen an Land, 11 GW für Biomasse und mindestens 150 GW für PV (Dach und Freifläche)“ bedeuten würde. Diese Werte liegen jeweils etwa ein Drittel über den Vorgaben des EEG.

    Die "Ampel"- Parteien SPD, Grüne und FDP hatten sich Ende 2021 in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, den Ausbauprozess der Erneuerbaren zu beschleunigen. Angesichts der schleppenden Verfahren bei Planung und Genehmigung neuer Anlagen und Infrastrukturprojekten – wie dem dringend erforderlichen Netzausbau – stellt das eine enorme Herausforderung dar. Sie kann nur durch eine weitgehende Entbürokratisierung und Verschlankung der Verfahren gelöst werden. Laut einer aktuellen Studie der World Wind Energy Association (WWEA) dauert in Deutschland das Planungsverfahren von Windkraftanlagen im Durchschnitt 70 Monate, die anschließende Genehmigung weitere zwei Jahre. Im Klartext: Ein Windpark, der im Jahr 2030 seinen Beitrag zur Energiewende leisten soll, muss spätestens 2022 geplant werden.

    Grundlastsicherung als zentrale Herausforderung
    Doch nicht nur die Ausbaugeschwindigkeit der Erneuerbaren muss deutlich erhöht werden – auch die Frage der Grundlastsicherung stellt eine ernstzunehmende Herausforderung dar. Kern- und Kohlekraftwerke sorgten in der Vergangenheit zuverlässig dafür, dass sich Schwankungen im Netz ausgleichen ließen. Weder Wind- noch PV-Anlagen können aber „auf Knopfdruck“ geregelt werden – bei „Dunkelflaute“ liefern sie keinen Strom. Bislang gibt es keine Batteriespeichertechnologie oder genügend Kapazitäten an Pumpspeicherwerken, um im Bedarfsfall ausreichend Strom bereitzustellen. Experten der Stiftung Energie und Klimaschutz gehen davon aus, dass „die Summe aus Pumpspeicherkapazität und Batteriespeichern allenfalls 0,06 Terawattstunden betragen“ wird, in einer Dunkelflaute hingegen „etwa 20 Terawattstunden zur Überbrückung von Erzeugungstälern bei den Erneuerbaren“ nötig sein könnten.

    Während sich eine Überproduktion von Strom aus Erneuerbaren durch Sektorenkopplung auffangen lässt (etwa durch die Umwandlung in Wärme), sind für das Abfedern von Dunkelflauten weiterhin leistungsfähige Kraftwerke notwendig. Die im Koalitionsvertrag der Ampel dafür vorgesehenen Gaskraftwerke sollen so beschaffen sein, dass sie auf klimaneutrale Gase („H2-ready“) umgestellt werden können.

    Allerdings hat die Strategie, auf Gas als Brückentechnologie zu setzen, durch die aktuelle Gasknappheit im Zuge des russischen Krieges gegen die Ukraine einen massiven Rückschlag erlitten. Somit sind eine zumindest übergangsweise wieder verstärkte Nutzung der Kohle sowie der beschlossene Streckbetrieb der Kernkraft bis April 2023 für die Grundlastsicherung unausweichlich. Hinzu kommt, dass auch der hohe Energiebedarf entlang der Wertschöpfungskette gedeckt sein muss, die zur Beseitigung der Infrastrukturdefizite beim Umstieg auf die Erneuerbaren benötigt wird. Vor allem der Ausbau der Netzkapazitäten, etwa zur Durchleitung grünen Offshore-Stroms von der Küste nach Süddeutschland, setzt eine günstige Verfügbarkeit von Energie und Rohstoffen voraus. Vereinfacht gesagt: Die derzeit herrschende Energieknappheit könnte die Wende hin zu den Erneuerbaren zusätzlich bremsen.

    Um den Herausforderungen des steigenden Energiebedarfs und der Netzstabilität bei Dunkelflauten zu begegnen, werden Technologieoffenheit und der Einsatz von Brückentechnologien daher immer in eine kluge Strategie eingebettet sein müssen, die das Paris-Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, nicht aus den Augen verliert. Mit Blick auf die verstärkte Nutzung von LNG werden die politischen Systeme von potentiellen Herkunftsländern wie Qatar, das umstrittene Fracking in den USA, aber auch eine weitere Nutzung der Kernkraft noch Gegenstand von erbitterten Diskussionen werden. Der „Ampel“-Koalition wird der energiepolitische Gesprächsbedarf nicht ausgehen.


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